Psychiatrien im Nationalsozialismus – Grenzen in der Gesellschaft
Emilie Blankenstein, Ellen Thomas
Der Beitrag versteht die systematische Entrechtung und Ermordung von erkrankten und behinderten Menschen im Nationalsozialismus als eine ideologisch motivierte Grenzziehung zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben, die der Stabilisierung der Volksgemeinschaft dienen sollte. Dies werfe einerseits die Frage auf, wie Gesellschaften auch heute mit Andersartigkeit umgingen, und zweitens böten die medizinischen Praktiken im Nationalsozialismus einen zentralen ethischen Bezugspunkt für heutige Medizin bzw. Psychiatrie. Zunächst erfolgt eine Einordnung des Konzepts der „Rassenhygiene“ in nationalsozialistische Ideologie, bevor mögliche Motive von Wissenschaftler*innen und medizinischem Personal eruiert werden, sich an der Tötung von Menschen zu beteiligen. Außerdem werden propagandistische Kampagnen gegen erkrankte und behinderte Menschen aufgegriffen. Der Beitrag arbeitet im zeitlichen Verlauf Gesetzgebung sowie institutionelle Weichenstellungen heraus, welche Zwangssterilisationen und Ermordung von Menschen mit psychischen und neurologischen Erkrankungen sowie Suchterkrankungen legitimiert und ermöglicht hätten. Ein Fokus liegt hierbei auf dem T4-Programm (u. a. Phasen, Tötungsmethoden und Verquickung der Tötung von Menschen mit pseudomedizinischen Experimenten) sowie auf der nur eingeschränkten Entschädigung der Opfer in der Bundesrepublik. Diese Befunde werden im Beitrag durch Beispiele aus der Stadt Münster illustriert, wobei auch der Protest des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen gegen die „Euthanasie“ genannt wird. Abschließend fragt der Beitrag nach den Kriterien, nach denen in Gesellschaft und Medizin der Wert eines Lebens beurteilt wird, sowie nach Schutzmechanismen gegen eine ideologische Indienstnahme der Medizin. Der Beitrag schließt mit dem Appell, die Mechanismen zu analysieren, die zu den Verbrechen geführt hätten, und gesellschaftlich an diese zu erinnern.