Ost-West-Geschichte(n) - Jugendliche fragen nach (1994 - 1995)
Fünf Jahre nach dem Mauerfall war die anfängliche Begeisterung für die Überwindung der Teilung vielerorts einem Gefühl von Fremdheit und Distanz gewichen. Der Wettbewerb von 1994/95 nahm das Problem der „Mauer in den Köpfen“ zum Anlass, die Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen von Jugendlichen erforschen zu lassen. Im Mittelpunkt standen die Erfahrungen und Schicksale der betroffenen Menschen.Kinder und Jugendliche wurden dazu ermutigt, Menschen nach ihren Erlebnissen und Erfahrungen mit der Teilung in Deutschland zu fragen. Wie hatte sich die deutsche Teilung auf das alltägliche Leben, z.B. auf die Verwandtschaftsbeziehungen, das politische Denken und Handeln sowie auf den Beruf oder die wirtschaftliche Situation ausgewirkt? Was hatten die befragten Personen über den jeweils anderen Teil Deutschlands gedacht, gewusst, erfahren? Aber nicht nur Zeitzeugenberichte wurden eingeholt, die jungen Spurensuchenden fragten auch nach der Rolle der Presse oder danach, was die damaligen Geschichtsbücher narrativierten. Drei Schülerinnen aus Münster wunderten sich beispielsweise im Laufe ihrer eigenen Arbeit mehrfach darüber, „wieso [sie] so wenig über die Zustände in der DDR allgemein wussten. Lag die Schuld bei den Schülern, unseren Lehrern oder dem Lehrplan?“ (vgl. Spuren suchen, 9. Jg. 1995, S. 38). Von acht Münsteraner Schulen sind 37 Beiträge von insgesamt 73 Teilnehmenden in Hamburg bei der Körber-Stiftung eingereicht worden. Besonders häufig wurden Biografien aus der eigenen Familie erforscht, besonders Liebesbeziehungen über die Grenze wurden gerne behandelt. Zwei Zehntklässlerinnen beleuchten beispielsweise an zwei konkreten Beispielen die Probleme deutsch-deutscher Liebesbeziehungen und Eheschließungen. Eine Autorin ist selbst im Rahmen einer Familienzusammenführung 1980 mit ihrer Mutter zu ihrem bereits 1962 geflüchteten Vater nach Münster übergesiedelt und zeichnet in ihrer Arbeit ein vielschichtiges und differenziertes Bild von der DDR, von Ost-West-Familienbeziehungen, von Übersiedlerschicksalen und allgemein der Ost-West-Problematik bis Mitte der 1990er Jahre. Aber auch Schulgeschichte wurde erforscht: Ein Beitrag beschäftigt sich für die Zeit von 1945 bis 1994 mit der Situation eines ost- und eines westdeutschen katholischen Gymnasiums und fragt nach den Kontakten beider Schulen von Mitte der 1980er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre. Die Spurensucher in Münster setzen inhaltlich auch Akzente in der Kirchengeschichte und zeigen, dass die deutsch-deutschen Kontakte und Verbindungen zwischen den Gemeinden zu den stärksten Klammern zwischen den getrennten Teilen Deutschlands gehörten. Eine Arbeit über den Ordensbruder Theo Koening aus Münster-Hiltrup, der von 1978 bis zur Wendezeit über Briefe und Pakete Kontakt zu insgesamt rund 600 – in der Mehrzahl ausreisewilligen oder aus politischen Gründen inhaftierten – DDR-Bürgern hatte, wurde mit einem 2. Bundespreis ausgezeichnet.
Anzahl Beiträge aus Münster: 37
Anzahl Teilnehmende aus Münster: 69
Anzahl der Preise in Münster: 19
Karte
Auf der Karte sind alle Orte markiert, zu denen Beiträge in diesem Wettbewerb geschrieben wurden.
4 SAB 137 - „Feindzentrale“ Onkel Theo. 600 Kontakte in die DDR – ein Ordensbruder mit außergewöhnlichem Hobby
4 SAB 159 - „Sie wollen damit nichts mehr zu tun haben. … 40 Jahre Arbeit haben das verdrängt.“ Warum ein Projekt an der deutsch-deutschen Wirklichkeit scheitern mußte
Im Turnus von zwei Jahren loben Bundespräsident und Körber-Stiftung den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten aus. In diesem Wettbewerb werden Kinder und Jugendliche seit 1973 dazu aufgerufen, ihre Lokal- oder Familien-geschichte zu erforschen. Eine Übersicht über alle Wettbewerbsthemen gibt es hier.
In keiner anderen Stadt haben seit 1973 so viele Kinder und Jugendliche am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten teilgenommen, wie in Münster. In den letzten knapp 50 Jahren entstanden hier rund 1.700 Arbeiten, die auch historische Themen für die Stadtgeschichte neu erschlossen haben. Das Stadtarchiv Münster sammelt und archiviert diese Schülerarbeiten in seinem Lesesaal, wo sie einen einzigartigen Quellenkorpus zur Stadtgeschichtsforschung bilden.
Gemeinsam mit dem Stadtarchiv Münster hat das Institut für Didaktik der Geschichte an der WWU die Beiträge, die Münsteraner Kinder und Jugendliche im Geschichtswettbewerb einreichen, erfasst. Im Rahmen des Münster Hack 2020 und in Zusammenarbeit mit dem European Research Center for Information Systems wurde so eine einzigartige Datenbank erarbeitet, die zeigt, wie sich Münsteraner Kinder und Jugendliche mit ihren Beiträgen zum Geschichtswettbewerb in die Erforschung der eigenen Stadtgeschichte einbringen.